Vernunft statt Liebe?
Juni 2016
Ist Vernunft wichtiger als Schmetterlinge im Bauch?
Interview von Sigrid Schulze mit dem Paartherapeuten André Dietziker
Viele haben Schmetterlinge im Bauch zu Beginn einer Beziehung. Später folgt oft die tiefe Enttäuschung. Ist es
deshalb vielleicht besser, sich nicht mehr zu verlieben und sich ganz vernünftig an das Thema Beziehung anzu-
nähern? Paartherapeut André Dietziker aus Cham erklärt, worin die Chancen und Gefahren liegen.
Schmetterlinge im Bauch sind ein aufregendes Gefühl… Das ganze Leben erscheint in neuem Glanz, voller Energie, mit
grossen Möglichkeiten!
André Dietziker Ja, jeder kennt dieses Gefühl und weiss, wie wunderbar es ist. Doch leider gehen die Schmetterlinge im
Bauch irgendwann vorbei, meist in einem Zeitraum zwischen einem halben Jahr und zwei Jahren. Dann ist die Brille nicht
mehr rosarot, sondern ermöglicht klare Sicht auch auf Facetten des Partners, die weniger gefallen. Wenn man nicht mehr nur
die positiven Seiten des Partners sieht, sondern auch die Ecken und Kanten, kann die Ernüchterung gross sein. Zweifel an der
Partnerschaft stellen sich ein.
Ist es besser, sich nicht zu verlieben?
Es ist unmöglich, sich nicht zu verlieben. Sich von einem anderen Menschen so intensiv angezogen zu fühlen, ist ein
natürlicher psychophysischer Vorgang, dem wir uns nicht entziehen können. Es passiert einfach. Allerdings verlieben sich
Menschen mit wachsendem Alter nicht mehr so schnell und gehen oft nüchterner auf neue Partnerschaften zu. Anderseits kann
der unbedingte Wunsch, eine Partnerschaft einzugehen und eine Familie zu gründen den Blick auch vernebeln und Menschen
Verliebtheit vorgaukeln.
Kann denn eine Beziehung ohne Schmetterlinge im Bauch funktionieren?
Ja, verliebt zu sein ist keine notwendige Voraussetzung für eine gute Beziehung. Es muss passen! Damit meine ich nicht, dass
es wichtig ist, die gleichen Hobbys zu haben oder dieselbe Musik zu hören. Solche Gemeinsamkeiten sind nicht tragfähig
genug, um später die Herausforderungen des Lebens gemeinsam zu bestehen und zum Beispiel Kinder in die Welt zu setzen
und zu erziehen. Es geht um eine ähnliche Grundhaltung dem Leben gegenüber, um gleiche Werte und Ziele.
Solche Gemeinsamkeiten lassen sich doch mit mehr als einem Menschen teilen. Ist der Mythos von dem nur einen
Richtigen also falsch?
Ja, die Vorstellung, den einen Prinzen oder die eine einzig passende Prinzessin zu finden, gehört in die Märchenwelt oder nach
Hollywood. Wir alle könnten mit verschiedenen Partnern glücklich sein. Aber es entstünden ganz verschiedene Lebenswege.
Die Hoffnung, mit der richtigen Partnerwahl werde eine Beziehung zum Selbstläufer, wird unweigerlich in die Enttäuschung
führen.
Hat eine Beziehung, die ohne Verliebtheitsgefühle beginnt, bessere Bestandschancen?
Nein, das lässt sich so nicht sagen. Schmetterlinge im Bauch können hilfreich sein. In der Paarberatung frage ich immer:
«Wann gab es zum letzten Mal den Moment, wo Sie Ihren Partner oder Ihre Partnerin zutiefst mochten und sich wirklich für ihn
entschieden haben?» Selbst wenn der Punkt lange zurück liegt, ist er eine hilfreiche, wenn auch nicht notwendige Ressource.
Manche Menschen trauern aber später dem Umstand nach, dass sie nie wirklich in den Partner verliebt waren.
Ist die äussere Anziehung bei der Partnerwahl unwichtig?
Das äussere Erscheinungsbild ist gleichsam das Ticket zur Annäherung. Danach spielen sehr unterschiedliche Faktoren eine
Rolle, ob Sympathie entsteht. Viele davon sind uns nicht bewusst. Die Funktion von Gerüchen wird zum Beispiel intensiv
untersucht. Sehr problematisch wird es, wenn reine Vernunft, Status oder wirtschaftliche Aspekte zu einer Partnerschaft führen.
Haben zwei Menschen erst einmal beschlossen, gemeinsam einen Teil ihres Lebensweges zu gehen, gilt es, eine gute
Beziehung zu führen. Gibt es dafür Patentrezepte?
Es gibt tatsächlich Rezepte, wie Partnerschaft gelingen kann – und sie sind ganz unspektakulär. Ein wichtiges Rezept besteht in
einer guten Kommunikation. Dazu zählt, wirklich zuzuhören und zu versuchen, den Partner zu verstehen, statt nur Stichworte
aufzunehmen und sie dann mit eigenen Assoziationen zu verbinden. So entstehen Missverständnisse! Darüber hinaus ist
wesentlich, dass jeder einzelne für sich und beide zusammen sinnvoll mit Stress umgehen. Viele Beziehungen kranken daran,
dass die Partner den Stress nicht gegenseitig auffangen, sondern Druck im Streit ablassen. Wer aber weiss, dass der andere in
Stresssituationen feinfühlig auf ihn eingeht, fühlt sich geborgen und im sicheren Hafen. Letztendlich geht es um die
grundsätzliche Bereitschaft, sich einzulassen, zu öffnen für das «Andere» im anderen.
Gute Kommunikationsfähigkeiten und Einfühlungsvermögen bringt nicht jeder mit in die Beziehung. Wie lassen sich
solche Fähigkeiten lernen?
Es gibt unzählige Fachbücher, Ratgeber und Paarseminare, die grundlegendes Wissen vermitteln und einüben. Über bewusste
Verhaltensänderungen lässt sich schon viel erreichen. Wenn Belastungen aus dem bisherigen Leben die Partnerschaft
beschweren, kann eine Paarberatung Knoten lösen helfen. Das grösste Gift ist die Haltung: «Ich habe mehr recht als du und du
trägst mehr Schuld als ich.»
Kann ohne Schmetterlinge im Bauch Liebe entstehen?
Ja, wenn wir Liebe als Fähigkeit sehen, den Partner in der Ganzheit seiner menschlichen Unvollkommenheit anzunehmen, zu
respektieren und zu achten. Die Enttäuschung nach der ersten Verliebtheit kann gerade diesen Übergang erschweren. Wenn ein
Paar zusammen kommt, sucht und geniesst es selbstverständlich gute Momente. Sich solche gute Momente auch später zu
erhalten, ist der Schlüssel für eine stabile, dauerhafte Partnerschaft.
Zur Person:
André Dietziker, 1957 geboren, ist seit 35 Jahren verheiratet und Vater von drei erwachsenen
Söhnen. Er arbeitet bereits seit 25 Jahren als Einzel- Paar- und Familientherapeut in seiner
psychotherapeutischen Praxis in Cham und ist darüber hinaus Schülerberater am Kantonalen
Gymnasium Menzingen (ZG). Er ist sehr aktiv in der Elternbildung und Projekten für
psychische Gesundheit.