Fasnachtsblues
Mittwoch, 16. Januar 2008
ZUGER PRESSE
Der Katzenjammer danach ist normal
André Dietziker bezeichnet sich selber als Fasnachtszaungast, dennoch ist er fasziniert vom Phänomen Fasnacht
Fasnacht ist mehr als eine mehrtägige Party: Das närrische Treiben, die Verkleidungen, das ausgelassene Feiern haben einen psycho-
logischen Hintergrund. Die «Zuger Presse» hat mit dem Psychotherapeuten André Dietziker über die Psychologie der Fasnacht ge-
redet.
André Dietziker, sind Sie selber ein Fasnächtler oder sind Sie ein Fasnachtsmuffel?
Ein Muffel ist ja jemand, der einer Sache gleichgültig oder desinteressiert gegenüber steht. In diesem Sinne bin ich kein Fasnachts-
muffel. Fasnacht ist ein Phänomen, das bei den allermeisten Menschen Emotionen auslöst. Darum ist es psychologisch ein sehr inte-
ressantes Thema. Persönlich bin ich ein Fasnachtszaungast.
Für echte Fasnächtler ist die Fasnacht der Höhepunkt des Jahres. Welche Funktion hat die Fasnacht? Ist sie Ventil? Die
einzige Möglichkeit, Grenzen zu überschreiten?
Eigentlich scheitert man schon an der Definition des «echten» Fasnächtlers. Allen gemeinsam ist wohl, dass sie sich auf diese Zeit
freuen. Wie sie die Fasnacht aber verbringen und worauf sich ihre Begeisterung bezieht, ist extrem unterschiedlich. Für manche mag
es tatsächlich ein Ventil sein, eine Möglichkeit, Seriosität, Steifheit und Kontrolle des Alltags durch Ausgelassenheit, Humor und
Lockerheit einzutauschen.
Die Fasnacht ist zum einen eine Zeit der Ausgelassenheit, andererseits ist sie stark geprägt von Ritualen und strengen
Regeln. Wie geht das zusammen?
Wir alle unterstehen ja gesetzlichen, gesellschaftlichen, moralischen und vielleicht auch religiösen Regeln. Wer ausgelassen ist,
muss sich deswegen nicht ausserhalb dessen verhalten, was im Alltag für ihn oder sie gilt. Heidnische und später religiöse Regeln
und Rituale waren schon immer Teil des menschlichen Lebens. Diese rituellen Wiederholungen schaffen Vertrautheit und Zusam-
mengehörigkeit. Die Rituale der Fasnachtsgesellschaften stiften gleichermassen Identität und Zusammengehörigkeit.
Ausufernde Feste wie die Fasnacht gibt es fast jedes Wochenende. Hat die Fasnacht ihren Sinn verloren? Weshalb gibt es sie
dennoch?
Es gibt die Fasnacht noch, weil sie Tradition hat und weil viele Menschen auf
irgendeine Weise daran Freude haben. Ich stelle aber heute einen Generationen-
graben fest, der sich auch auf die inhaltliche Gestaltung der Fasnachtszeit aus-
wirkt. In der älteren Generation, spielen geselliges Beisammensein, tanzen und
Humor eine zentrale Rolle. Man geniesst es, den Alltag vergessen zu können.
Der Reiz des Verbotenen, mit dem man spielt, sind Flirts, trotz fester Partner-
schaft. Anderseits gibt es eine junge Generation, welche Fasnachtsanlässe aus
ihrem eigenen Freizeitstil heraus organisiert. Solche Bälle unterscheiden sich
tatsächlich nicht stark von Festen, welche die jungen Leute auch sonst erleben.
Die Fasnacht als emotionales Ventil spielt hier eine untergeordnete Rolle. Un-
verbindliche Beziehungen zu haben gehört sowieso zu dieser Entwicklungs-
phase. Die Grenzverletzung der Jungen besteht eher darin, zu viel Alkohol zu
trinken.
Verkleidet sein, in eine andere Identität schlüpfen, ist eigentlich ein Hauptmerkmal der Fasnacht. In den letzten Jahren sind
aber immer weniger Fasnächtler verkleidet. Gerade die Jungen verzichten darauf. Weshalb?
Die Fasnacht unterliegt gewissen Vorurteilen hinsichtlich Alkoholmissbrauch oder sexuellen Ausschweifungen und deren Folgen für
Beziehungen. Es braucht darum in gewisser Weise auch Mut, sich zu verkleiden und damit sichtbar zu denen zu gehören, die so
unmoralisch sein sollen. Junge Menschen kreieren ihre eigene Fasnacht. Im Gegensatz zu deren Ausgelassenheit steht eine demon-
strierte Coolness, die sich auch dadurch zeigen soll, dass man sich nicht verkleidet, nicht tanzt und sich nicht so «kindisch» be-
nimmt wie die «Alten».
Ist es psychologisch bedeutungsvoll, welche Verkleidung jemand wählt?
Die Wahl des Sujets ist wohl kaum je zufällig. Dass Menschen auch verborgene Seiten und heimliche Wünsche ausleben erachte ich
als selbstverständlich. Man darf die Wahl einer Verkleidung aber auch nicht zu sehr psychologisieren oder absolut deuten. Man kann
diese immer nur für den einzelnen Menschen individuell verstehen. Es geht beim Verkleiden auch um Spass, Originalität, Kreativi-
tät, um Rollenspiele, Experimente, um Verblüffen und Reinlegen.
Fasnacht ist für viele die Gelegenheit zu flirten, sexuelle Abenteuer zu suchen. An der Fasnacht gehen Beziehungen in die
Brüche und neue entstehen. Spüren Sie das in Ihrem Praxisalltag?
An der Fasnacht sind die Menschen in einer ähnlichen Stimmung wie in den Ferien. Viele sind offener, kommunikationsfreudiger,
gelassener, fröhlicher und darum auch schneller im Kontakt mit andern. Zudem wirken Menschen in dieser Stimmung sympathi-
scher und anziehender. Dies mag ein Grund sein, weshalb an Fasnachtsanlässen oft Beziehungen entstehen. Ausserdem führen
Müdigkeit und Alkoholkonsum dazu, dass Hemmungen schwinden und der Mut steigt. Gefühle von Vertrautheit gegenüber einem
vorher unbekannten Menschen können sich unter solchen Bedingungen schneller einstellen. Anders sieht es aus, wenn das Ziel ein
unverbindlicher Flirt, oder ein sexuelles Abenteuer ist. Dies führt eher selten zu ernsthaften Beziehungen, aber manchmal zu ernst-
haften Konsequenzen für bisherige Partnerschaften.
Können Beziehungen, die in einer solchen Extremsituation entstehen, auf lange Sicht erfolgreich verlaufen?
Es wäre ein Fehlschluss, solche Beziehungen als grundsätzlich zum Scheitern verurteilt abzustempeln. Man lernt einen neuen
Partner ja nach der Fasnacht noch besser kennen. Und wenn die Beziehung alltagstauglich ist, wird sich dies zeigen. Solche Ver-
bindungen scheitern nicht häufiger als andere. In meiner Praxis erlebe ich oft Menschen, die sich davor fürchten, dass der Partner
alleine an die Fasnacht gehen will. Hingegen habe ich recht selten Paare in der Therapie, deren Probleme alleine durch die Fasnacht
entstanden sind. Manchmal werden aber Schwierigkeiten sichtbar, die zuvor noch unterschwellig waren.
Im übrigen müsste man sich auch überlegen, ob heute nicht in gewisser Weise das Internet mit seinen Chat-Räumen und Partner-
vermittlungsangeboten viele Bedürfnisse abdeckt. Moralisch abweichendes Verhalten auf verbotenen Websites und elektronisches
„Verkleiden“ hinter erfundenen Identitäten sind dort viel leichter möglich als im realen Leben.
Mit Grauen blicken Fasnachtsmuffel den kommenden Tagen entgegen. Für sie ist die Fasnacht nur ein Freilos für alle
möglichen Auswüchse. Brauchen diese Menschen kein Ventil?
Ein Ventil hat ja die Funktion, Überdruck abzulassen. Wer in seinem Alltag in einem emotionalen Gleichgewicht ist, gerät darum
gar nie in diese Situation. Menschen haben ganz unterschiedliche Formen sich zu entspannen, vom Arbeitsalltag abzulenken, sich
wohl zu fühlen und Spass zu haben. Zudem war früher die soziale Kontrolle in der Gesellschaft viel grösser. Heute toleriert man
vielfältige Lebensentwürfe. Ich gehe davon aus, dass jeder Mensch manchmal Gedanken hat, seine eigenen moralischen Werte zu
übertreten. Es ist aber auch an der Fasnacht eine beschränkte Gruppe von Leuten, welche die moralische Grenzüberschreitung
wirklich ausleben.
Viele Fasnächtler fallen nach der Fasnacht in eine Art von Depression. Ist diese Reaktion «normal»?
Natürlich ist der Katzenjammer nach den schönen Erlebnissen normal. Man konnte unbeschwert sein, war in einer andern Welt und
muss nun wehmütig Abschied nehmen und sich wieder mit dem Alltag anfreunden. Aber meist ist bloss der Anfang schwer und da-
nach freut man sich auf das nächste freudige Ereignis, die Ferien oder dann eben auf die nächste Fasnacht.