Die Innere Uhr
Die Innere Uhr
Interview mit André Dietziker anlässlich einer Abschlussarbeit an der Berufsschule Rüti ZH
1. Wonach richtet sich unser Zeitempfinden?
Der Schlaf-Wach-Rhythmus ist das markanteste rhythmische Lebensphänomen, das wir als Menschen wahrnehmen. Dahinter
stecken hoch komplexe hormonelle Taktgeber, die direkt von der Einstrahlung des Sonnenlichtes abhängig sind. Weisses Son-
nenlicht fördert die Produktion von Serotonin, dem Hormon, das Aktivität und Zufriedenheit anstösst. Dunkelheit dagegen
mobilisiert Melatonin, welches beim Menschen schlafanstossend wirkt.
Die innere Uhr eines Menschen orientiert sich am Sonnenaufgang. Bereits innerhalb der gleichen Zeitzone differiert dieser
von Osten nach Westen aber um ungefähr 90 Minuten. Dies zwingt Menschen, die weiter im Westen der Zeitzone leben, ge-
gen ihre innere Uhr aufzustehen. Damit erklärt sich auch der Jetlag, welchen wir bei Reisen über mehrere Zeitzonen erleben.
Der zirkadiane Rhythmus des Organismus wird dabei durch den Verlust des Taktes von Tag und Nacht empfindlich gestört.
2. Was geschieht in unserem Kopf wenn wir durch Ablenkung das Zeitgefühl verlieren?
Im Begriff Zeitgefühl beschreiben wir ein subjektives Gefühl für die Zeit. Nichts ist individueller und einzigartiger als das
emotionale Erleben eines jeden Menschen. Dieses wird einerseits gesteuert von der zirkadianen Rhythmik des stofflichen
Körpers, anderseits aber auch durch die äusseren Gegebenheiten, in denen sich das Individuum gerade befindet. Dieses
subjektive Erleben lässt sich letztlich immer auch auf die hormonelle Situation im menschlichen Organismus zurückführen.
Elemente wie Adrenalin, Noradrenalin, Dopamin, Serotonin, Endorphine usw. lenken unsere Stimmung, unseren Antrieb,
unsere Motivation und damit wieder das Gesamtempfinden für eine Situation.
3. Faktoren sind verantwortlich für eine individuelle Zeitwahrnehmung? Und wieso empfinden wir die Zeit
verschieden?
In sämtlichen Bereichen des menschlichen Organismus finden sich biologische Rhythmen. In vielen Fällen sind wir uns der
rhythmischen Prozesse nicht bewusst. Die ultrakurze Rhythmik, etwa jene der Nervenzellen, können wir gar nicht unmittel-
bar wahrnehmen. Anders verhält es sich beim Herzschlag oder bei der Atmung. Das rhythmische System des menschlichen
Organismus unterliegt verschieden langen Rhythmen. Langwellige (zirkadiane = ungefähr einen Tag dauernde) Rhythmen
finden sich überwiegend im Stoffwechsel. Weitere Beispiele für zirkadiane Rhythmen sind die Periodizität von Blutdruck
und Körpertemperatur. Mittelwellige Rhythmen, deren Zyklen Minuten oder Stunden dauern, betreffen vornehmlich die
Herzfunktion und die Atmung, aber auch die Verdauung und die Freisetzung von Hormonen. Kurzwellige Rhythmen haben
eine Periodendauer von Millisekunden bis Sekunden. Sie sind die Grundlage des Nerven-Sinnessystems sowie der Wahr-
nehmungs- und Denktätigkeit.
4. Warum kommt uns die Zeit beim schlafen so kurz vor? Hat das einen Zusammenhang mit unserem Zeitemp-
finden?
Im Schlaf verlieren wir unser Wachbewusstsein. Schlaf ist gleichsam eine bewusstseinsfreie Zeit. Dies ist nicht zu verwech-
seln mit einer Ohnmacht. Unser Organismus ist höchst aktiv im Schlaf. Die Vergänglichkeit von Zeit braucht aber die bewuss-
te Wahrnehmung, dass diese abläuft. Nehmen wir also keine äusseren Einflüsse wahr, welche uns darauf hinweisen (der Son-
nenlauf, Wetterwechsel, Uhren, Tages-Routinen usw.) fällt das Empfinden für das Verlaufen der Zeit weg.
5. Hängt unser Zeitempfinden mit unseren Gefühlen zusammen? Wenn ja, inwiefern?
Das Empfinden für die Geschwindigkeit, wie Zeit vergeht, kann enorm verschieden sein. Eine Situation, die uns gefällt und
emotional aufheitert, sollte nie vergehen. Das empfinden dazu ist darum eher so, dass es uns als „zu schnell“ vorkommt. An-
derseits scheint die Zeit in einer unangenehmen Situation irgendwie fast stehen zu bleiben. Gefühle sind höchst subjektiv. Die
gleiche Situation wird von verschiedenen Menschen ganz unterschiedlich empfunden. Letztlich sind aber auch Gefühle ein
psychophysisches, ganzheitliches Phänomen: Der Gedanke mobilisiert das Gefühl, das Gefühl startet eine Körperreaktion.
Die Befindlichkeit ist ein Ergebnis des Zusammenspiels dieser Elemente, die sich alle gegenseitig beeinflussen.
6. Kann ein Mensch sein Zeitgefühl verlieren? ( z. B. Unfall oder Krankheit)
Wenn Hirnregionen durch Unfall oder Krankheit geschädigt werden, kann das Zeitgefühl und die räumliche Orientierung
beeinträchtigt oder vollständig verloren gehen. Die Bilder von dementen alten Menschen, die orientierungslos werden, sind
alltäglich. Was viele nicht kennen, sind psychotische Menschen, die Zeit- und Raumorientierung in Folge einer schweren
psychiatrischen Erkrankung für einige Zeit verlieren.
7. Welcher Teil in unserem Gehirn steuert das Zeitgefühl?
Deutsche Chronobiologen untersuchen derzeit die Auswirkungen von biologisch optimiertem Licht auf die Leistungen von
Schülern. Intensiviertes blaues Licht scheint den Suprachiasmatischen Nukleus, die eigentliche Steuerzentrale unserer inne-
ren Uhr, speziell zu reizen. In der Folge wird die Ausschüttung des Müdigkeits- Hormons Melatonin gehemmt und damit
Wachheit und Aufmerksamkeit gefördert. Die Lesegeschwindigkeit der Schüler stieg unter dem Einsatz von aktivitätsför-
derndem Licht im Schnitt um 35%!
8. Tickt unsere Innere Uhr in Stresssituationen gleich wie wenn wir am relaxen sind? Was sind die Unterschiede und
Gründe dafür?
Die innere Uhr kann in gewisser Weise aus dem Takt geraten, wenn durch bestimmte äussere Einflüsse, wie Reisen über Zeit-
zonen, der Taktgeber Sonne sich verändert. Der innere Taktgeber passt sich aber innert Tagen oder Stunden an die neue Situa-
tion an und pendelt sich wieder ein. Das heisst, die innere Uhr selbst bleibt ihrer zirkadianen Rhythmik grundsätzlich treu.
Der äussere Einfluss aus konkreten Situationen, in welchen wir uns befinden, hat aber einen starken Einfluss auf die Zeitqua-
lität des Momentes. Ein entspannter Zustand, eine ruhige Atmung und ein konzentrierter Focus z.B. in der Meditation, setzt
andere Hormone frei, als eine Prüfungssituation oder Zeitdruck.
9. Kann unser Zeitgefühl durch Alkohol / Drogen beeinträchtigt werden? Wenn ja weshalb?
Ähnlich wie im Schlaf führt die Beeinträchtigung unseres natürlichen Wachbewusstseins durch Substanzen aller Art (Medi-
kamente, Drogen, Alkohol) zu einer Veränderung des Zeitempfindens. Dies gilt sowohl für sedierende wie auch für stimulie-
rende Stoffe.
10. Kann man das Zeitempfinden aktiv beeinflussen? Also die Zeit schneller / langsamer vergehen lassen?
Neuere Studien zeigen, dass uns die Zeit länger vorkommt, wenn der Tagesinhalt abwechslungsreich ist und die Tagesstruktur
nicht immer gleich verläuft. Je mehr sich Tage ähneln, desto schwieriger kann man sie auf Dauer auseinander halten. Alles
fühlt sich an wie ein gleichbleibender Einheitsbrei ohne Höhen und Tiefen. Wenn jeder Tag auf seine Art neu ist, ergibt sich
ein Gefühl von Vielfalt und Reichtum, das uns zufriedener werden lässt mit der Art, wie wir die Zeit und unser Leben
verbringen. Dies wiederum gibt uns mehr das Gefühl, die Zeit verlaufe „langsam genug“.
11. Warum vergeht die Zeit schneller, je älter wir werden?
Auf Grund der Antwort vorher ergibt sich darum auch eine logische Erklärung, warum uns die Zeit im Alter schneller er-
scheint. Die körperliche Alterung führt unweigerlich zum Verlust von Geschwindigkeit bei den täglichen Verrichtungen.
Sinneswahrnehmung, Kraft und Leistungsfähigkeit nehmen ab, die Bewältigung des Alltags an sich wird von einer Selbstver-
ständlichkeit zu einer Anstrengung. Man bewegt sich langsamer, also hat weniger Inhalt Platz in der gleichen Zeit. Ausserdem
nimmt der Bewegungsradius rapide ab und die Tage gleichen sich über weite Strecken. Weniger Abwechslung führt, wie er-
wähnt, eher zum Gefühl, die Zeit vergehe schneller.
Oktober 2013