Gleichgewicht
Herbst 2014
Schulmagazin “Zwischenzeit” am Kantonalen Gymnasium Menzingen
Balance
Unser Schülerberater André Dietziker beleuchtet das Thema Gleichgewicht aus seiner ganz speziellen Optik
Das Leben als Schaukelbewegung
Zwei Kleine links, ein Grosser rechts - so habe
ich meine Söhne jeweils auf der Kinderschaukel
platziert. Nur durch gleichmässig verteiltes Ge-
wicht, war das Wippen überhaupt möglich. In
einem Ungleichgewicht setzte es immer ein Ge-
schrei ab, weil ein Kleiner ganz da oben fest sass
und in Angst geriet.
Wir alle geraten in Stress, wenn unsere Wahrneh-
mung eine Dysbalance signalisiert. Das vegetative
Nervensystem reagiert sofort, meldet Bedrohung und
wappnet sich für Gegenmassnahmen.
In der Schülersprechstunde werde ich fast immer mit
Fragen konfrontiert, die man als Verlust des Gleich-
gewichtes ansehen kann. Die Gegensatzpaare lauten
dann: „Erfolg oder Misserfolg“, „Arbeit und Freizeit“
oder „Aktivität und Erholung“. Darunter verstecken
sich aber oft viel existentiellere Fragen, wie sie eben
für die Adoleszenz typisch und notwendig sind. Das Übergangsstadium in der Entwicklung vom Jugendlichen zum vollends
gereiften Erwachsenen präsentiert Themen und Fragen, die ganz schön aufwühlen können. Das Gehirn befindet sich in dieser
Entwicklungsphase in einem prägnanten neuronalen Umbauprozess. Der präfrontale Cortex und die Amygdala sind im Gehirn
am Schaukeln. Ersterer dient der Handlungsplanung und der Kontrolle emotionaler Prozesse. Auf der andern Seite sitzt der
Mandelkern im limbischen System, welches wesentlich an der Entstehung und Verarbeitung von Emotionen beteiligt ist. Die
gegensätzlichen Pole heissen hier „Beherrschung und Impulsivität“, „Selbstkontrolle und Risikobereitschaft“ oder „Planung
und Spontaneität“. Gerne werden diese Entwicklungsaufgaben als „Seriosität contra Lustprinzip“ missinterpretiert. In Tat und
Wahrheit ist es wohl eher das Ringen zwischen dem kontrolliert vernünftigen und dem von Emotionalität gelenkten Verhalten.
Darin erklärt sich das Zweifeln, das Suchen und Versuchen des jungen Erwachsenen.
Die Wippe, die mir als Schülerberater am meisten auf dem
Herzen liegt, ist jene zwischen Exploration und Bindungs-
system. Sie betrifft uns alle. Die Bindungstheorie besagt, dass
ein Kleinkind nur dann freudig lernend die Welt erkundet,
wenn es sich der Obhut, Fürsorge und Präsenz einer wichtigen
Bezugsperson sicher ist. Später reicht die Gewissheit eines
sicheren emotionalen Hafens, in den wir zurückkehren können.
Aber es ist erwiesen, dass ein Gefühl von Zugehörigkeit und
Anteilnahme im privaten und schulischen Umfeld, die Qualität
des Lernens entscheidend beeinflusst. Fühlt sich ein Schüler/
eine Schülerin im Klassenverband integriert, als Person wahr-
genommen und gemocht, wird befreites Lernen erst möglich.
Gelingt es den Eltern und den Lehrpersonen zudem, als Kata-
lysator zum Lernstoff der Schülerin/ dem Schüler Anerken-
nung, Ermunterung und Trost anzubieten, verhilft er ihr/ ihm
zum bestmöglichen Lernprozess.
Auf diesem Hintergrund lauten die Gegensatzpaare auf der
Wippe dann eben „sicher oder unsicher“, "anerkannt oder abge-
lehnt", "integriert oder ausgegrenzt", "leistungsfähig oder
blockiert" und "zuversichtlich oder zweifelnd". Es versteht sich
von selbst, dass Störungen in den wichtigen Beziehungen einen
Menschen im Kern treffen und aus der Balance bringen kön-
nen.
Natürlich hätten wir es am liebsten, wenn unsere inneren Wip-
pen im Gleichgewicht stünden. Unsere Sehnsucht strebt nach der Balance. Die Waagerechte ist die Position der Ruhe, Aus-
gewogenheit und Harmonie. Sie ist selten. Wir sollten den Alltag nicht daran messen, denn Normalität ist die Bewegung, das
Auf und Ab, das Schaukeln. Aber genau in dieser Dynamik liegt doch die Lebendigkeit, der Fortschritt, die Intensität. Bleibt die
Wippe hingegen länger in einer Position stecken, wird dies beunruhigend. Dann gilt es, sie wieder in Bewegung zu bringen.
Zwei Kleine links, ein Grosser rechts – Balance. Erst das Schaukeln bereitet Vergnügen.